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Mehr Ostpolitik wagen!

22.10.2015

Politik der Nicht-Einbindung Russlands ist gescheitert

Nicht die Politik der Einbindung Russlands in Europa ist gescheitert, sondern die Politik der Nicht-Einbindung. Ein Debattenbeitag des Ost-Ausschuss-Vorsitzenden Eckhard Cordes für den Tagesspiegel.

Das Jahr 2015 ist geprägt von einer Reihe historischer Jahrestage: 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges, 70. Jahrestag der Konferenz von Potsdam, 40. Jahrestag der KSZE-Schlussakte von Helsinki, 25. Jahrestag des 2+4-Vertrages und der anschließenden Deutschen Einheit. Die Daten erzählen in dieser Reihenfolge von den dunkelsten Stunden Deutschlands und Europas und dann von dem nachfolgenden Wunder, der Überwindung der deutschen Teilung in Frieden und Freiheit und der Beseitigung des Eisernen Vorhangs in Europa. Die Sowjetunion bzw. deren Rechtsnachfolger Russland spielte bei allen genannten Daten für die Entwicklung Deutschlands eine Hauptrolle, war erst an der Zerschlagung des Dritten Reiches maßgeblich beteiligt, um diesem Deutschland dann 1989 trotz schrecklichster Verbrechen im Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung zu reichen.

Vor 25 Jahre schien im November 1990 mit der Charta von Paris „das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas“ zu Ende zu gehen und ein neues „Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ zu beginnen. Von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurden damals bereits der endgültige Sieg des westlichen Wirtschafts- und Politikmodells und damit das Ende der Geschichte ausgerufen. Wie sehr hat er sich geirrt!

25 Jahre später sind die Geister des Kalten Krieges zurück in Europa: Über der Ostsee und an der türkischen Grenze beharken sich Düsenjäger Russlands und der NATO, Pläne für die Modernisierung von Atomwaffenarsenalen und neue Militärstützpunkte im östlichen Europa werden ausgearbeitet. Die Unsicherheit, dass menschliches oder technisches Versagen einen großen Krieg auslösen könnte, ist zurück.

Die vorherrschende Ansicht in der westlichen Politik und den Medien ist es, dass Russland mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim die Grundlagen der Charta von Paris und damit die Sicherheitsordnung in Europa aufgekündigt hat. An einer Integration in Europa sei Putins Russland in Wahrheit nie interessiert gewesen, jetzt zeige es sein wahres Gesicht. In Russland hingegen wird das Ende der Charta von Paris früher angesetzt. In Wahrheit habe der Westen Russland niemals als gleichberechtigten Partner einer neuen, gemeinsamen Sicherheitsordnung akzeptiert. Verwiesen wird auf den Beginn der NATO-Osterweiterung entgegen anderslautender Absprachen in den 1990er Jahren, auf das NATO-Bombardement im Kosovo-Konflikt oder auf den Irak-Krieg – jeweils ohne UNO-Mandat. Wichtige Vertreter der russischen Regierung wähnen sich bereits seit einigen Jahren in einem hybriden Krieg gegen den Westen, der mit Hilfe der NATO und initiierten Farbenrevolutionen und neuerdings mit Wirtschaftssanktionen einen Regimewechsel in Moskau zum Ziel habe, gegen den man sich schützen müsse.

Diese beiden völlig unterschiedlichen Narrative, die auf einen massiven Vertrauensverlust in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren zurückweisen, müssen dringend im Dialog aufgearbeitet werden. Auffällig ist dabei, dass ausgerechnet die Väter der Entspannungspolitik wie Michail Gorbatschow, Henry Kissinger, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Horst Teltschik oder der verstorbene Egon Bahr, am vehementesten auf Fehler des Westens verweisen. Wolfgang Schäuble, der als damaliger Chef des Bundeskanzleramts und Bundesinnenminister die Weichen zur Vereinigung Deutschlands aktiv stellte, äußerte kürzlich in der FAZ: „Das Verhalten des Westens Russland gegenüber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann nicht als ein reines Ruhmesblatt bewertet werden. Als Russland erkennbar schwach war, hätte der Westen seine eigene Stärke nicht so sehr ausspielen müssen.“

Tatsache ist, dass das „Gemeinsame Haus Europa“, das sich Gorbatschow 1990 im Interesse wohl der meisten Europäer erträumte, nie gebaut worden ist. Genauer gesagt: Es wurde gebaut, aber ohne Russland.

Noch im Jahr 2001, unmittelbar nach dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin, gab es Überlegungen zu einer NATO-Mitgliedschaft Russlands. Ein Konzept für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von EU und Russland wurde 2003 vorgelegt, Verhandlungen über gegenseitige Visa-Freiheit begannen. Seit rund zehn Jahren aber wurde bei keinem der genannten Ziele mehr ein Fortschritt erzielt, das Misstrauen gewann über das gegenseitige Vertrauen die Oberhand. In diese Sackgasse sind wir im vergangenen Jahrzehnt immer weiter hineingerannt – bis zum Ausbruch der Ukraine-Krise.

Auf der Suche nach einer Strategie für die Zukunft treten einige Wissenschaftler, Journalisten und Politiker in Deutschland, insbesondere aber auch einige Regierungen in Osteuropa und einflussreiche Kreise in den USA öffentlich für eine Abkehr von der „Ostpolitik“ ein, also von einer Politik, die auf einen „Wandel durch Verflechtung“ (Außenminister Steinmeier), auf einen ständigen Dialog und die Verfolgung gegenseitiger Interessen setzt, um damit zu einer Einbindung Russlands in europäische Strukturen zu kommen. „Deutschlands Ostpolitik ist gescheitert“, lautet das Urteil, schließlich sei Russland in den vergangenen 15 Jahren nicht europäischer, sondern autoritärer geworden. Zwei Alternativen werden angeboten: Eine Politik, die wie im Kalten Krieg, auf militärische Abschreckung und Konfrontation setzt. Die mildere Variante davon ist eine Politik des „Congagement“, also eine Mischung aus militärischer, politischer und wirtschaftlicher Isolierung Russlands (Containment) und vorsichtiger Einbindung bei gemeinsamen Interessen, wie etwa jüngst in der Iran-Frage (Engagement).

Was bei dieser Analyse übersehen wird: Die Politik des „Congagement“ ist nicht etwa eine Neuerfindung, sondern sie entspricht der Politik des Westens gegenüber Russland in den vergangenen 25 Jahren. Die deutsche „Ostpolitik“ hingegen, die hierzulande mal mehr, mal weniger intensiv verfolgt wurde, war in Europa ein Sonderweg, der insbesondere von den USA und den osteuropäischen EU-Mitgliedern misstrauisch betrachtet wurde.

Zu keinem Zeitpunkt hat das deutsche Konzept der „Ostpolitik“ die europäische Außenpolitik dominiert. Sie hat dennoch einiges erreichen können, gerade auch für die osteuropäischen EU-Staaten: Russland hat deren Beitritt zur EU noch 2004 nicht etwa als Gefahr für sich, sondern als große, gemeinsame Chance verstanden – auch in der Hoffnung, eines Tages Teil eines gemeinsamen europäischen Marktes und Teil einer Visa-freien Zone zu sein.

Seither aber konnte deutsche „Ostpolitik“ kaum noch gestalten, sie musste in Krisen, die sie nicht verursacht hatte, vermitteln – angefangen vom NATO-Gipfel in Bukarest 2008, als die Bush-Administration den Beitritt der Ukraine und Georgiens durchsetzen wollte, über die Vermittlungsbemühungen im Georgien-Konflikt zusammen mit Frankreich, die einen russischen Einmarsch in Tiflis 2008 gerade noch verhindern konnten, bis hin zum Ukraine-Konflikt, bei dem es maßgeblich die Bundesregierung war, die ihr Gewicht für ein Friedensabkommen in Minsk in die Waagschale legen konnte. Das Vertrauensverhältnis zwischen Berlin und Moskau ist angeschlagen. Es ist aber immer noch das beste Arbeitsverhältnis mit Russland, das es im Westen gibt – dank der deutschen „Ostpolitik“.

Nicht im Verhältnis zu Russland ist dieser Politikansatz demnach gescheitert, sondern allenfalls im Verhältnis zu den Partnern im Westen, die nicht bereit waren, auf Projekte wie die NATO-Osterweiterung, auf Alleingänge im Irak oder in Libyen und Raketenbasen in Osteuropa zu verzichten und das Konzept der Östlichen Partnerschaft mit und nicht ohne Russland zu entwickeln.

Wir brauchen einen selbstbewussten Neustart der Ostpolitik! Es steht für den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft außer Frage, dass dabei auch die Wirtschaft eine wichtige Rolle übernehmen kann und muss. Der wirtschaftliche Austausch ist der wichtigste Motor für gesellschaftliche Verständigungsprozesse. Wirtschaftliche Brücken ermöglichen zahllose Begegnungen von Menschen und damit den Aufbau von Vertrauen. Wird ihr Bau erschwert oder verhindert, wie durch die Einführung gegenseitiger Sanktionen oder durch die Errichtung protektionistischer Trennlinien, hat dies nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung, sondern auch auf den Zusammenhalt in Europa insgesamt. Wer nachhaltiges Wachstum will, der darf nicht tatenlos zusehen, wie sich unser Kontinent in zwei Wirtschaftsblöcke spaltet. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums unter Einschluss Russlands wie auch der Ukraine muss das Ziel sein.

Im Jahr 2016 übernimmt die Bundesregierung den Vorsitz der OSZE. Sie sollte diese Rolle mit großem Selbstbewusstsein übernehmen und zum Ausgangspunkt einer neuen Entspannungspolitik machen. Ein umfassender Verständigungsprozess mit Russland und den Ländern der Eurasischen Wirtschaftsunion sollte beginnen, entlang der drei Themen Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft, und damit entlang der Themen des legendären Helsinki-Prozesses der 1970er Jahre. Im Unterschied zu damals sind die gemeinsamen Interessen heute ungleich größer, wir müssen uns nur wieder auf sie besinnen. Spätestens seit der Flüchtlingskrise sollte klar sein, dass wir Europäer globale Herausforderungen nur gemeinsam lösen können.

Alle Debattenbeiträge finden Sie hier

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