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Trotz Gegenwind: eine historische Energiepartnerschaft

Mario Mehren. Foto: Wintershall DEA
03.02.2020
50 Jahre Erdgas-Röhren-Vertrag/ Gastbeitrag von Mario Mehren

Vor 50 Jahren wurde der Erdgas-Röhren-Vertrag zwischen der bundesdeutschen Wirtschaft und der Sowjetunion geschlossen – und prägte eine Diskussion, die uns bis heute beschäftigt. Die Ereignisse von damals lesen sich wie ein aktueller Wirtschaftskrimi.

Einen Vertrag, der es in sich hat, unterzeichnen am 1. Februar 1970 westdeutsche Firmen und Banken mit der Sowjetregierung: Die deutsche Seite sagt zu, über eine Million Tonnen Großröhren für den Erdgastransport zu bauen. Moskau verpflichtet sich im Gegenzug, jährlich drei Milliarden Kubikmeter Gas zu liefern. Dieses Erdgas-gegen-Röhren-Geschäft legt den Grundstein für die Energiepartnerschaft zwischen West und Ost, aber auch für politischen Streit. Und beides hält bis heute an.

„Kalkuliertes Tauwetter“

Ein geistiger Vater des damaligen Wirtschaftsdeals ist Bundeskanzler Willy Brandt. Der Vertrag bedeutet kalkuliertes Tauwetter. Wirtschaft als Brückenbauer. Im besten Sinne: Wandel durch Handel. Von Seiten der Wirtschaft wirbt insbesondere der 1952 gegründete Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und sein damaliger Vorsitzender Otto Wolff von Amerongen für diesen Ansatz. Erst im Jahre 1968 waren Großröhren, bei denen deutsche Produzenten führend waren, auch aufgrund beharrlicher Vermittlungsarbeit des Ost-Ausschusses von der Embargo-Liste der NATO gestrichen worden. Damit ist der Weg frei für das erste Erdgas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion. 

Die Unterzeichnung am 1. Februar 1970 nimmt direkt den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 vorweg, der die Serie der Ostverträge der Sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt eröffnet. Warschauer Vertrag (7. Dezember 1970) und Deutsch-Deutscher Grundlagenvertrag (21. Dezember 1972) folgen. Dabei habe sich die Politik die Methodik der Wirtschaft zu Eigen gemacht: Zusammenarbeit statt Konfrontation, erläutert Egon Bahr später den Ansatz der Bonner Entspannungspolitik.

Skepsis in den USA

In den USA wird dieser Ansatz mit Skepsis verfolgt. Bereits 1970 - die Amerikaner, stehen mitten im Vietnamkrieg und im Kampf gegen den Kommunismus - erwägt Präsident Nixon Sanktionen gegen das Energieprojekt. Die Bundesregierung hält jedoch an ihrem Kurs fest. Das ist jedoch längst nicht das Ende der Auseinandersetzungen, sondern der Anfang einer langen Geschichte. Denn Deutschland und Westeuropa investieren in den folgenden Jahren weiter in die Energiepartner¬schaft mit dem Osten. Die USA dagegen befürchten während dieser Zeit des Kalten Krieges in jeder Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und Russland einen Verrat am westlichen Bündnis und eine gefährliche Abhängigkeit – zugleich verbunden mit der Hoffnung, die russischen Lieferungen nach Europa durch eigenes, amerikanisches Gas ersetzen zu können.

1982 eskaliert dann der Streit. Die prominentesten Protagonisten: Helmut Schmidt und Ronald Reagan. Nach dem Erfolg der ersten Erdgas-Röhrengeschäfte soll mit einer Pipeline von Sibirien nach Westeuropa durch Polen eine weitere Verbindung geschaffen werden. Deutschland liefert Rohre und Kompressoren im Wert von 20 Milliarden D-Mark und die Sowjetunion liefert im Gegenzug jährlich 40 Milliarden Kubikmeter Gas. Die USA protestieren abermals vehement. Schließlich herrscht angesichts des Einmarsches der Russen in Afghanistan und des Kriegsrechts in Polen offene Feindschaft. Was dann geschah, zeigen etwa die Studie „Osthandel oder Wirtschaftskrieg?“ der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung wie auch zahlreiche Zeitungen der damaligen Zeit. Die Ereignisse lesen sich wie ein Wirtschaftskrimi. 

In Washington dominieren die Falken

Im Weißen Haus und im Pentagon dominieren die Hardliner und drohen der deutschen Regierung. Die Reagan-Administration untersagt amerikanischen Firmen, ihre Technologie beizusteuern. Der US-amerikanische Außenminister Alexander Haig tritt über diesen Pipeline-Streit zurück. Bundeskanzler Schmidt reagiert mit klarer Kante und ironischem Kommentar auf die US-Einmischung in die europäische Wirtschaft: Immerhin brauche die UdSSR doch westliche Devisen, um in den USA weiter Getreide zu kaufen. Ein Senator aus Alaska schlägt vor, dass die Europäer das russische Gas ersetzen sollten – und zwar durch Gas aus Alaska. Und er fordert, US-Truppen aus Deutschland abzuziehen, denn die Russen könnten dort jederzeit den Strom abdrehen.

Das alles liest sich aus heutiger Sicht absurd. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich, wie ähnlich unsere Situation derzeit ist. Denn auch heute brauchen Deutschland und Westeuropa Erdgas aus Russland, um die Versorgung von Verbrauchern und Industrie zu sichern. Und ebenso, um Kohlestrom durch Gas zu ersetzen und die eigenen Klimaziele zu erreichen. Auch heute sorgt der Ausbau der europäischen Gasinfrastruktur für deutlichen Dissens zwischen der amerikanischen und deutschen Regierung. Damals waren Afghanistan und Polen Kernthemen des politischen Konflikts mit Russland, heute sind es die Ukraine und Syrien. Damals wollten die Amerikaner Gas aus Alaska verkaufen, heute ist es US-Schiefergas. Die Konfliktlinien zwischen den USA und Westeuropa sind nahezu die gleichen. Die Drohungen der Amerikaner sind ähnlich. Und ebenso unverändert ist, dass Deutschland und Europa gut beraten ist, sich von diesen Drohungen nicht einschüchtern zu lassen. 

Die Idee damals wie heute: russisches Gas für Energiesicherheit und Klimaschutz

Das „Erdgas gegen Rohre“-Abkommen von 1970 war eng verbunden mit einem weiteren wichtigen Schritt unter Willy Brandt: dem ersten energiepolitischen Programm einer deutschen Regierung. Um die hohe Abhängigkeit vom Erdöl und den arabischen Ländern zu mindern, gab die Bundesregierung als Marschrichtung vor: mehr Erdgas und mehr Kernkraft. Dies wurde durch die Ölkrise 1973/74 noch einmal dringlicher. Russisches Gas statt arabisches Öl, so lautete die Devise. Den Wärmemarkt von Öl auf Gas umstellen!

Aber es ging nicht nur um Versorgungssicherheit und die Vorteile diversifizierter Lieferrouten, sondern auch damals schon um Umwelt und Gesundheit. In den Worten Brandts: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“. Schon 1970 verabschiedete sein Kabinett ein Sofortprogramm zum Umweltschutz. Auch hierbei sollten Erdgas und Kernkraft eine zentrale Rolle spielen, weil sie gegenüber der Kohle im Bereich Emissionen punkten. Nun, die Kernkraft ist inzwischen in Deutschland vom Tisch. Umso mehr steht Erdgas heute als Partner der Erneuerbaren im Fokus einer klimaschonenden Energieversorgung. Die Grundidee der Energiewende im Jahr 2011 lautete, Kernkraft und Kohle durch Erneuerbare und Erdgas zu ersetzen. Wir brauchen Gas für den Klimaschutz. Aber woher bekommen wir das Gas, das wir brauchen?

Für eine sichere Versorgung mit Erdgas benötigen wir verlässliche Partner. Das meint die Partnerschaft mit Norwegen. Die gilt in politischer Sicht als unproblematisch. Das meint aber auch die Partnerschaft mit Russland, die vielen im Westen problematisch erscheint, denn die politischen Beziehungen zu Russland sind frostig. Umso wichtiger ist der Blick auf das, was wir trotz politischer Eiszeit haben und weiter brauchen: eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Pipelinegas als Trumpf

Es ist gut für Europa, dass wir bei Bedarf Flüssiggas aus den USA oder Katar beziehen können. Aber wir sind in der glücklichen Lage, darauf nicht angewiesen zu sein. Denn wir haben, neben der eigenen Gasförderung in der EU, große Produzenten in Pipelinedistanz. Dank Pipelinegas genießen wir in Europa ein recht niedriges Gaspreisniveau. Das ist ein Trumpf, von dem die Verbraucher tagtäglich profitieren, und es stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie gegenüber den Konkurrenten aus Asien und den USA. 

In „guten wie in schlechten Zeiten“ war Russland uns ein verlässlicher Energielieferant und das bereits ein halbes Jahrhundert lang. Ohne Russland gibt es für Deutschland und Europa auch heute keine Energiesicherheit, ob uns das passt oder nicht. Aber ich persönlich bin überzeugt: Das sollte uns passen! Denn, während die Amerikaner warnen, Europa mache sich allzu abhängig von russischer Energie, sehen wir Europäer hier gegenseitige Interessen und damit große Chancen. Europa braucht bezahlbare und saubere Energie, Russland braucht Verkaufserlöse. Politisch mag man das als gegenseitige Abhängigkeit betrachten. Aber aus wirtschaftlicher Sicht ist das ganz einfach die Basis für eine verlässliche Partnerschaft. Denn jede gute Partnerschaft basiert auf gegenseitigen Interessen und Bindungen. 

Die deutsche Energiewirtschaft weiß, wie eine unabhängige und wettbewerbsfähige Energieversorgung funktioniert. Und wir wissen aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie eine erfolgreiche wirtschaftliche Kooperation dazu beitragen kann, Brücken für Zivilgesellschaft und Politik zu bauen. So wie es auch in den 70er und 80er Jahren funktioniert hat – trotz Gegenwinds.

Mario Mehren ist Sprecher des Arbeitskreises Russland beim Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft und CEO von Wintershall Dea, des größten unabhängigen europäischen Gas- und Ölproduzenten. 
 

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