Das Jahr 2024 hat die deutsche Wirtschaft erneut vor große Herausforderungen gestellt. Die Folgen sind ablesbar an den gängigen ökonomischen Fieberkurven, ob Wachstum oder Insolvenzentwicklung. Es sind keine hellseherischen Fähigkeiten nötig, um vorauszusagen, dass das vor uns liegende Jahr nicht weniger herausfordernd sein wird. Der anhaltende Krieg in der Ukraine, die Konflikte im Nahen Osten, die Regierungswechsel in Washington und Berlin und nicht zuletzt der drohende Handelskrieg zwischen den USA und China, vielleicht auch zwischen den USA und Europa, schaffen ein unsicheres Umfeld. Wenn Unternehmen eines nicht mögen, dann ist es Unsicherheit.
Die EU und insbesondere Deutschland sind in dieser globalen Gemengelage wirtschaftlich besonders verletzlich. Hohe Energiepreise, Produktivitätsdefizite, vernachlässigte Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und andere Zukunftstechnologien sowie die ungünstige demografische Entwicklung beeinträchtigen Europas Wettbewerbsfähigkeit in einer Zeit, in der diese stärker herausgefordert wird denn je. Das hat man auch in Brüssel verstanden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu einer Priorität ihrer zweiten Amtszeit zu machen. Im Herbst hat der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi im Auftrag der Kommission bereits einen Katalog mit Maßnahmen vorgelegt. Der Fokus liegt dabei auf der Vertiefung des europäischen Binnenmarkts.
Dies ist zweifellos ein wichtiger Ansatz. Ich meine aber, die Vertiefung muss durch eine Erweiterung des EU-Binnenmarkts und durch starke Partnerschaften mit den östlichen EU-Anrainern ergänzt werden. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien sind immens wichtig für die deutsche Wirtschaft. Bis Ende 2022 – das sind die aktuellsten Zahlen - hatten deutsche Unternehmen dort über 157 Milliarden Euro investiert und beschäftigten dort rund zwei Millionen Menschen. Auf die 29 Länder in Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien entfallen trotz des tiefen Einbruchs im Russland-Handel fast ein Fünftel des deutschen Außenhandels. Das ist mehr als doppelt so viel wie mit China. Unser Nachbar Polen ist inzwischen sogar vor China der viertwichtigste deutsche Absatzmarkt.
Dabei ist Mittel- und Osteuropa längst nicht mehr bloß die verlängerte Werkbank der deutschen Wirtschaft. Natürlich profitieren deutsche Unternehmen weiterhin von attraktiven Produktionsbedingungen im Osten. Aber die Region bietet eben auch ein innovationsfreundliches Umfeld, eine lebhafte Start-Up-Szene und niedrigere Forschungs- und Entwicklungskosten. Manche Länder dort sind Vorreiter in der digitalen Verwaltung. Der Wissensaustausch kann helfen, die Digitalisierung in Deutschland und anderen EU-Ländern zu beschleunigen. Die Region hat großes Potenzial für erneuerbare Energien und Energieeffizienz und kann somit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die EU unabhängiger von Energieimporten zu machen und die Energiekosten im Griff zu behalten. Austauschprogramme und gemeinsame Bildungsoffensiven können das Know-how in der gesamten EU und damit langfristig deren Produktivität steigern.
Es ist daher höchste Zeit, an die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der EU-Erweiterungen nach Osten seit 2004 anzuknüpfen und die Länder des Westlichen Balkans, die Ukraine, Moldau und perspektivisch hoffentlich auch Georgien weiter in die europäischen Strukturen zu integrieren. Mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau und den Fortschritten in den Beitrittsgesprächen mit Ländern des Westlichen Balkans hat Brüssel im Vorjahr die Türen in Richtung Erweiterung weiter geöffnet. Nun muss die EU so schnell wie möglich aufnahmefähig gemacht werden. Gleichzeitig müssen auch die Beitrittskandidaten notwendige Reformen zügig umsetzen.
Neben dem Ausbau des europäischen Binnenmarkts sind aber auch engere Handelsbeziehungen mit den Ländern des Südlichen Kaukasus und Zentralasiens erforderlich. Zu Recht fordert der Draghi-Report den Abschluss weiterer Handelsabkommen und industrieller Partnerschaften, um Abhängigkeiten bei kritischen Rohstoffen oder Produktionskapazitäten zu reduzieren. Gerade hat die EU das jahrzehntelang verhandelte Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten unterzeichnet. Die neue EU-Kommission muss nun auch die Beziehungen zu den östlichen EU-Anrainern im Südkaukasus und Zentralasien zügig und verbindlich ausbauen. Gerade Zentralasien mit seinen 80 Millionen Einwohnern gewinnt als Wirtschaftsstandort, Energie- und Rohstofflieferant und als Logistikhub rasant an Bedeutung.
Mit einer Vielzahl von Aktivitäten und Projekten ebnet der Ost-Ausschuss deutschen Unternehmen den Weg auf die Märkte Mittel- und Osteuropas. Ganz oben auf unserer Agenda steht auch 2025 die Beteiligung am Wiederaufbau der Ukraine durch die Einbindung der privaten Wirtschaft. Daneben treibt der Ost-Ausschuss in ganz Mittel- und Osteuropa spannende Projekte zur Förderung der grünen Transformation und zur Fachkräfteausbildung voran. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind die europäische Integration der Länder des Westlichen Balkans sowie die Harmonisierung von technischen Normen und Standards mit Zentralasien.
Vor dem Hintergrund des Regierungswechsels in den USA brauchen wir jetzt mehr denn je ein starkes, großes und geeintes Europa. Dabei sind auch neue Konzepte gefragt: Warum nicht über stufenweise Beitrittsprozesse oder Teilmitgliedschaften sowie großzügigere Übergangsregelungen nachdenken, um zu schnelleren Ergebnissen zu kommen? Denn die Welt wartet nicht auf die oft schwerfällige EU-Bürokratie. Nie war die Gefahr größer als heute, im internationalen Wettbewerb zwischen den USA und China abgehängt zu werden. Mutige Reformen in der EU mit klarem Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Erweiterung sowie enge Partnerschaften mit den östlichen EU-Nachbarn wären darauf die richtige Antwort.
Der Beitrag ist als Gastbeitrag in den Nachrichten für Außenhandel (NfA) vom 7. Januar 2025 erschienen.
Christian Himmighoffen
Leiter Presse und Kommunikation
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