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Gemeinsam in die Zukunft

OAOEV-Vorsitzender Oliver Hermes; Foto: Wilo
08.06.2020
In einem Gastbeitrag im russischen Kommersant schlägt Oliver Hermes eine gemeinsame Industriestrategie vor

"Unser Kontinent steht inmitten einer Bewährungsprobe historischen Ausmaßes: Viele Menschen verlieren ihr Leben oder sind von Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlust bedroht. Die Solidarität auf unserem Kontinent in Gesundheits- und zunehmend auch in Wirtschaftsfragen wird in der Coronakrise einem Lackmustest unterzogen. Diese Krise zwingt uns nun zu raschen Antworten. Hierin liegt auch eine große Chance: Die Stunde unseres Kontinents kann noch schlagen, Versäumtes könnte jetzt beschleunigt nachgeholt werden. Dies kann uns gelingen, wenn basierend auf einer gemeinsamen Strategie der EU und Russlands weitere sektorale bzw. funktionale Strategien, wie eine Energie-, Klimaschutz- und Digitalisierungsstrategie mit allen Interdependenzen hinsichtlich einer neu zu definierenden gemeinsamen Industriestrategie entwickelt werden.

Die Zukunft der Industrie „Beyond the Obvious“

Unternehmer suchen in der Krise immer auch nach Chancen. Das Gleiche sollte für die Politik gelten. Es geht jetzt darum, einen souveränen und solidarischen Kontinent zu bauen, der mehr ist, als ein Juniorpartner Chinas oder der USA. Wenn es Russland und der EU gelingt zu einer koordinierten Industriestrategie zu finden, dann kann sich unser Kontinent im internationalen Wettbewerb neu aufstellen.

Die in den vergangenen Monaten beschlossenen Maßnahmen der Regierungschefs der EU-Staaten stellen das zunächst nur „Notwendige“ zur Bewältigung der Coronakrise dar. Aber die Maßnahmen reichen nicht aus. Sie sind obvious und geben nur eine Antwort auf das Offensichtliche, nämlich die akute und kurzfristige Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise. Es ist aber genau jetzt die richtige Zeit beyond the obvious zu denken und den Kontinent in ein neues Zeitalter hineinzuführen.

Einzelne Länder außerhalb der EU haben schon vor Ausbruch der Pandemie nationale Industriestrategien verabschiedet und setzen diese konsequent um. Russland verfolgt eine klar formulierte Industriestrategie mit dem Ziel, die Abhängigkeit von den Rohstoffmärkten, insbesondere von Öl und Gas zu reduzieren. Es wird eine Diversifizierung der Industrie und eine Erhöhung der lokalen Wertschöpfung sowie eine Stärkung der Exportaktivitäten angestrebt. Versucht man aber eine kohärente Industriestrategie der EU zu finden, so wird man bitterlich enttäuscht.

Es ist offensichtlich und obvious, die Wertschöpfungsketten auf unserem Kontinent so zu stabilisieren, dass einzelne Mitgliedsstaaten entweder als Kunde oder als Lieferant nicht ausfallen. Beyond the obvious wäre es, jetzt den Nachholbedarf auf unserem Kontinent bei Forschung, Entwicklung und Bildung zu kompensieren und zudem gezielt die digitale Transformation und den Klimawandel als die absoluten Zukunftsprioritäten in den Fokus zu stellen.

Im Rahmen der digitalen Transformation sollte sich die EU-Industrie nicht nur auf die Schaffung smarter Produkte, Systeme und Lösungen sowie den Bau digitaler Produktionsstätten konzentrieren. Es geht darum mit einem regelrechten Turbo-Booster die Digitalisierung der Vertriebs- und Marketingprozesse inklusive der Distributionsprozesse zukunftsorientiert zu betreiben. In diesem Punkt können wir von Russland lernen: Sie betrachten die digitale Transformation vom „Front-End“ also vom Kunden ausgehend. In Europa wird sie unter dem Label „Industrie 4.0“ oder „Industrie du Futur“ häufig vom „Back-End“ also von Beschaffungs- und Produktionsprozessen ausgehend gedacht. Es gilt, durch Digitalisierung die Kundenbindung und Loyalität von Industriekunden zu erhöhen.

Gerade die Coronakrise hat gezeigt, dass die Menschen weltweit auf unsere Industrieprodukte angewiesen sind. Medizintechnik, gerade auch aus Deutschland, ist weltweit führend. Es sind die modernen und effizienten Industrieprodukte, welche weltweit die Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen in den Sektoren Gesundheit, Energie und Wasser, Transport und Verkehr gewährleisten. Auch die Güter des digitalen Online-Handels, bei dem uns die USA und China abgehängt haben, müssen erst einmal industriell produziert werden. Dennoch ist der Rückstand unseres Kontinents im IT-Sektor schmerzhaft und gefährlich. Auch hier kann Europa von Russland lernen: Es gibt noch einige russische Global Player, die sich im IT-Sektor behaupten können.

Die Länder der EU verfügen zusammen mit Russland in der Breite immer noch über eine einzigartige Forschungslandschaft. Die intensive wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland hat nicht zuletzt bei der Erforschung des Weltraums in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll ihre gemeinsamen Qualitäten bewiesen.

Der Klimaschutz wird ein Top-Thema unserer Zeit bleiben

Das Klima ist durch langfristige Entwicklungen stark negativ beeinflusst und bleibt zurecht auf allen gesellschaftlichen Ebenen eines der Top-Themen. Hier hat die EU mit dem Green Deal einen richtigen Akzent gesetzt. Viele europäische Industrieunternehmen sind bereits Klimaschutz-Unternehmen. Durch eine Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland entstehen daraus große gemeinsame Chancen:
2020 können wir bereits auf 50 Jahre deutsch-russische Energiebeziehungen zurückblicken. Die damals gebauten Pipelines funktionieren bis heute. In Zeiten eines Green Deals werden sie einen weiteren Bedeutungswandel erleben: Erdgas aus Russland hilft der EU kurzfristig, ihre Klimabilanz zu verbessern. Und eine weitere Nutzung der Transportinfrastruktur für klimafreundlichen Wasserstoff zeichnet sich bereits ab und eröffnet im Rahmen des Green Deals ein neues, riesiges Feld für eine Zusammenarbeit. Diese Partnerschaft muss in Zukunft weiter zu einer Energie- und Klimaallianz ausgebaut werden.

Klimaschutz ist für Europäer und Russen ein gemeinsames Anliegen. Auch bei dem absehbaren Re-Shoring von internationalen Wertschöpfungsketten, können die Unternehmen aus der EU und Russland eng zusammenarbeiten und wieder mehr Produktion auf unserem Kontinent ansiedeln.

Wir brauchen im Interesse unserer Industrie einen institutionalisierten Dialog zwischen der EU-Kommission und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Getrennt werden es weder die EU noch Russland schaffen, gegen die Aufteilung der Welt durch Chinesen und US-Amerikaner ein wirksames Gegenmittel zu entwickeln. Ein vernünftiger Austausch über einen gemeinsamen Wirtschafts- und Industrieraum von Wladiwostok bis Lissabon, der die EU, Russland und ihre benachbarten Partnerländer verbindet, muss endlich beginnen.

Solidarität über Landesgrenzen hinweg

Gemeinschaftliche Probleme und Krisen erfordern gemeinschaftliche Lösungen. Die ersten Reaktionen im Rahmen der Coronakrise waren auf politischer Ebene in vielen Ländern der Welt zunächst reflexartig und nationalistisch. Russland hat in der Coronakrise aber auch über seine Landesgrenzen hinweg Solidarität gezeigt und auf das Hilfeersuchen Italiens, als europäisches Epizentrum der Pandemie, mit Fachpersonal und medizinischen Gerätschaften reagiert. Die Corona-Pandemie bietet jetzt die Chance nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine humanitäre Partnerschaft zwischen der EU und Russland entstehen zu lassen. Hierbei können der medizinische Expertenaustausch über Plattformkonzepte von Verbänden, aber auch privatwirtschaftliche Initiativen und Förderprojekte ein Zeichen setzen."

Der Autor Oliver Hermes ist Vorstandsvorsitzender & CEO der Wilo Gruppe, Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation, Vorsitzender des Ost-Ausschuss-Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft e.V., Mitglied des Vorstandes des Nah- und Mittelost-Vereins und des OAV German Asia-Pacific Business Association. Der Autor gibt seine eigene Meinung wieder.

Ansprechpartner

Andreas Metz
Leiter Presse und Kommunikation
Tel.: 030 206167-120
A.Metz@bdi.eu

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